Trotzki

”Starker Abgang, Jürgen!”
sagte Guido und lehnte sich zufrieden zurück.

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Der Artikel von Kostas Kipuros erschien am 20.04.1999 in der taz. Mit freundlicher Genehmigung durften wir  diesen Artikel in der CLARA FALL nachdrucken.

Dem Krieg der Nato gegen Jugoslawien fehlt jegliche Legitimation. Europa trägt große Mitverantwortung an  der Krisenregion Balkan

Milosevic gleich Hitler, Vertreibung gleich Deportation, Deportation gleich Völkermord - endlich mal ein klares Wort von Außenminister Joseph Fischer. Als Angehöriger einer griechischen Familie, die aktiv am Kampf gegen Hitler teilgenommen hat, glaubte ich bislang, einigermaßen zu wissen, was Antifaschismus bedeutet. Aber vielleicht irre ich mich ja wie auch 90 Prozent aller Griechen, rund 50 Prozent aller Deutschen, viele Italiener und Spanier, für die der Nato-Krieg ein Weg in die Sackgasse ist? Fischers Vergleich diskreditiert jede Kritik am Krieg der Nato zum Pakt mit dem Faschismus.

Der Gebrauch des konkret besetzten Wortes "Deportation" für die brutalen Vertreibungen der Albaner durch serbisches Militär und paramilitärische  Einheiten verharmlost zudem die Verbrechen Hitlerdeutschlands. Der inflationäre  Gebrauch von Termini, mit denen die Untaten der Nazis charakterisiert werden, macht Auschwitz zum beliebigen Verbrechen. Eine Gleichstellung zwischen Hitler (schon Saddam war einer) relativiert in unzulässiger Weise die Judenvernichtung.  Sollte es Fischer wirklich entgangen sein? Die Deportationszüge der Nazis  endeten für die Juden in den industriellen Todeslagern von Auschwitz. Die  Flüchtlingstrecks der Albaner immerhin im rettenden Ausland.

Milosevic gleich Hitler? Wer diesen Vergleich anstellt, fordert zu einem totalen Krieg gegen Serbien bis zur bedingungslosen Kapitulation Milosevic' und  zur Besetzung Belgrads auf. Wer die serbische Vertreibungspolitik mit dem  industriell geplanten und umgesetzten Massenmord Hitlerdeutschlands vergleicht,  sollte für derartige Behauptungen zumindest Beweise erbringen. Am Ende von  Auschwitz stand immerhin der Tod von sechs Millionen Juden. Der Krieg im Kosovo  hat bislang nach einem vertraulichen Bericht der US-Regierung 3.200 Todesopfer  gefordert, zahlreiche davon gehen auf das Konto der Nato. Gewiß, jeder einzelne Tote ist einer zuviel. Doch wem nützen die Vergleiche mit Auschwitz? Und wann nähert sich die Nato jenem Punkt, da die Zahl der von ihr aus Versehen getöteten Zivilisten jene übersteigt, die Milosevic auf dem Gewissen hat?

Der Krieg der Alliierten gegen den Irak hat nach Schätzungen rund 100.000  tote Zivilisten gefordert, noch einmal eine halbe Million Irakis bezahlten das  Embargo mit ihrem Leben. Auf eine derartige Zahl hat es noch nicht einmal  Saddams brutale Repressionsmaschinerie gebracht. Dabei sitzt der Diktator noch immer im Sattel, der Nahe Osten ist nach wie vor weit von einem stabilen Frieden  und von Demokratie entfernt.

Vielleicht betreibt Milosevic im Kosovo wirklich Völkermord. Nur, wie  bezeichnet Fischer dann die Ereignisse in Ruanda, Algerien, Tschetschenien, Liberia, Angola, in der Türkei, im Sudan...? Wenn es stimmt, was Verteidigungsminister Scharping sagt, im Kosovo müßten die Menschenrechte  wiederhergestellt werden, dann hätte die Nato alle Hände voll zu tun. Derzeit toben weltweit rund 40 Bürgerkriege, Tendenz steigend. Der Krieg Ankaras gegen  die Kurden hat bisher rund 30.000 Tote gefordert. Als Rußland tschetschenische  Zivilisten massakrierte, war aus Bonn kein Wort der Kritik zu vernehmen. Statt  den drohenden Völkermord der Hutu an den Tutsi zu verhindern, zog Frankreich  seine Truppen ab und überließ die Opfer ihrem Schicksal. Das Ergebnis: 800.000 Tote. Die amerikanische Entscheidung, einer UN-Friedensmission keine umfassende  Unterstützung zukommen zu lassen, machte den Völkermord erst in diesem  schrecklichen Ausmaß möglich.

Fischer behauptet, der Nato- Kampfeinsatz sei ein gerechter Krieg, weil er zum Schutz der Albaner geführt wird. Von Thomas von Aquin und Franziskus de  Vitoria wissen wir jedoch, daß Gewaltanwendung mindestens drei Bedingungen erfüllen muß, ehe sie als gerechtfertigt gelten kann: Erstens müssen alle Verständigungsbemühungen fehlgeschlagen sein. Zweitens muß die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt sein. Der von Gewalt ausgehende und zu  erwartende Schaden darf nicht den übersteigen, den er begrenzen soll. Drittens schließlich dürfen Unbeteiligte nicht durch die Folgen der Gewaltanwendung leiden. Keiner der drei genannten Punkte trifft für den Krieg gegen Jugoslawien  zu.

Nein, ich kann Fischers Versicherung, in Rambouillet alles getan zu haben, um  den Krieg zu verhindern, nicht abnehmen. Wenn es stimmt, daß Milosevic ein Mörder ist, der vor Gericht gehört, weshalb ist dann seine Unterschrift unter  ein Abkommen so wichtig, von dem Scharping selbst sagt, es gehe inzwischen um  mehr. Weshalb hat die Nato, wenn der jugoslawische Präsident bar jeder rationalen Logik handelt, dann so lange mit ihm um Verträge gefeilscht?

Ein Blick in das Rambouillet- Abkommen zeigt, daß Milosevic sehr wohl bei  Trost war, als er sein Signum verweigerte. Man mag die Zurückweisung des Vertrags durch die Mehrheit der Serben in dieser oder jener Weise interpretieren. Der Widerstand gegen den Vertrag ist jedenfalls Tatsache, weil er nicht als Begrenzung des Milosevic-Regimes, sondern als nationale serbische Demütigung empfunden wird. Schon deshalb ist die These, der Krieg richte sich nicht gegen Jugoslawien, falsch. Ebenso falsch ist die Behauptung, ethnische  Vertreibungen könnten nicht hingenommen werden. Alle neu entstandenen  Nachfolgestaaten Jugoslawiens, Serbien und Makedonien ausgenommen, sind doch  schon ethnisch homogen. Seit 1991 wurden 600.000 Serben aus Kroatien vertrieben.  Das war nur möglich, nachdem die Nato, Deutschland inklusive, Kroatien massiv aufrüstete. Sämtliche neu entstandenen Staaten definieren sich auf dem Balkan  nach ethnischen und nationalistischen Prinzipien. Selbst ein "unabhängiges"  Kosovo würde sich nach albanischen und islamischen Gesichtspunkten  konstituieren. Mit Demokratie hat das nichts zu tun.

Der Westen hat alles getan, um den Krieg zu verhindern? Dies gehört zu den Standardbehauptungen, die trotz ständiger Wiederholungen nicht wahrer werden.  Deutschland erkannte 1991 Slowenien und Kroatien an, obwohl in beiden Republiken die UN-Kriterien über Minderheitenrechte nicht erfüllt waren. Obwohl Präsident Tudjman faschistische Tendenzen in Kroatien beförderte, erhielt er politische  Unterstützung durch die EU sowie zusätzlich militärische durch Deutschland. Erst redeten die sonst so kosmopolitischen Europäer, allen voran der Ex-Außenminister Genscher, den nationalistischen Führern Sloweniens, Kroatiens, Serbiens und  Bosniens nach dem Munde, daß sie aufgrund ethnischer, religiöser und kultureller Unterschiede keinesfalls länger zusammenleben könnten. Dann wunderten sie sich,  als die Völker eben diese Abgrenzung praktizierten.

Daß es keinerlei Garantie für ein friedliches Auseinandergehen geben konnte, wurde in sträflicher Weise ignoriert: Auf dem Balkan stimmt keine einzige  Staats- mit den ethnischen Grenzen überein. Wer bereit war, den Staat  Jugoslawien aufzuheben, konnte die "innerjugoslawischen" Grenzen nicht als unantastbar betrachten. Und wer den Fortbestand eines multinationalen und  -kulturellen Jugoslawien als unrealistisch ablehnt, muß, wenn er bei dieser Logik bleiben will, erst recht die Existenz multikultureller Nachfolgestaaten verwerfen. Ohne vorherige Revision interner Grenzen sowie einer gerechten Vermögensaufteilung war das undifferenzierte Einverständnis zur Sezession die  Bejahung eines künftigen Bürgerkriegs.

"Nicht die nationale Vielfalt, sondern die Zersplitterung in Einzelstaaten hängt über dem Balkan wie ein Fluch. Die Grenzen  zerschneiden ihn künstlich in Teile. Die Ränke der Mächte verflechten sich mit  den blutigen Intrigen der Balkandynastien. (...) Nur ein einheitlicher Staat  aller Balkannationalitäten auf demokratisch-föderativer Grundlage nach dem  Muster der Schweiz oder der Nordamerikanischen Republik kann eine innere Beruhigung auf dem Balkan bringen und die Voraussetzungen für eine machtvolle  Entwicklung schaffen." Was wie ein Auszug aus einem Strategiepapier der Europäischen Union klingt, hat Leo Trotzki schon 1909 (!) gewußt. Haben die Europäer seitdem wirklich nichts dazugelernt?

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