Neuer Wein

”Starker Abgang, Jürgen!”
sagte Guido und lehnte sich zufrieden zurück.

Jeder  Schluck 'ne Mark
von  Marion Koch, Ottersberg

Ich beginne mit der Frage: Was ist ein großer Wein? Die Antwort versteht  jedoch nur, wer über sinnliches Einfühlungsvermögen verfügt, denn zuallererst handelt es sich hier um einen Wein, der für den wirklichen ganzheitlichen Genuß gemacht ist. Ein großer Wein ist von herausragender Aromafülle (Bouquet) und  einem wunderbaren Harmoniegefüge der einzelnen Komponenten (Säure, Gerbstoff,  Süße, Alkoholgehalt) geprägt. ”Das Sinnbild eines perfekten Weines im  Gleichgewicht ist die Kugel” (Emile Peynaud). Seine außerordentliche Qualität  resultiert nicht zuletzt aus einer sorgfältigen Verarbeitung bester Trauben.  Große Weine sind vollendete Kunstwerke, einzigartig und beeindruckend; Balsam  für die Seele.

”Der Unterschied zwischen einem großen Wein und einem Tafelwein ist so  groß, wie der Unterschied zwischen einem Originalgemälde und seiner  Schwarz-Weiß-Reproduktion auf dem Papier einer Tageszeitung” (aus dem Franz.,  Pierre Poupon).

Große Weine verlangen ihren Preis, und schon allein aus diesem Grund ist ein Kennenlernen der ”Spitzengewächse” vielen Menschen versagt. Es ist davon auszugehen, daß nur etwa 200.000 bis 300.000 Frauen und Männer in Deutschland  mehr oder weniger regelmäßig hochpreisige Weine trinken. Aus ökonomischer  Perspektive betrachtet, entsprechen diese Zahlen einem Marktpotential von 0,25 - 0,38 %, bezogen auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands. Unter hochpreisigen  Weinen werden Weine mit einem Endverbraucherpreis von über 20 Mark verstanden. Weltweit gibt es Tausende von Produzenten hochwertiger Weine, die jedoch alle  nur relativ kleine Mengen herstellen. Somit wundert es nicht, daß nur ca. 1 - 2  % aller abgesetzten Weine in Deutschland auf das Hochpreissegment entfällt.  Anders ausgedrückt: Nur ca. jede 100. Flasche Wein, die über den Ladentisch geht, hat über 20 Mark gekostet!

Wer schon einmal zu einer kostspieligen Flasche Wein gegriffen hat, weiß vielleicht, daß die Enttäuschung beim ersten Schluck groß sein kann. Damit das nicht wieder passiert, hier die wichtigsten Grundregeln für den Kauf von edlen  Weinen:

  • Es gibt bei teuren Weinen kein Preis-Leistungsverhältnis. Ein großer Wein  erzielt seinen Preis nicht nur aufgrund seiner Qualität, sondern vor allem aufgrund der Nachfrage. Der Qualität eines Weines sind Grenzen gesetzt, während  der Preis ins Unermeßliche steigen kann. Der zu erwartende Weingenuß steigt also  nicht proportional mit dem Kaufpreis an. Große Weine werden aus Leidenschaft  gekauft und das Pathos bestimmt auch den Genuß. Trinke also die wahrlich guten Tropfen nur in gleichgesinnter Gesellschaft!
  • Unabhängig vom Preis muß immer die Frage der Trinkreife gestellt werden. Es gibt sehr teure Weine, die noch vieler Jahre Kellerruhe bedürfen, um sich  optimal zu entfalten. Beispiele dafür wären z. B. Grand Crus aus Bordeaux, die jung auf den Markt kommen und dann eingelagert werden müssen. Diese Weine bieten keinen großen Trinkgenuß, wenn sie zu noch erschwinglichen Preisen erhältlich sind. Es ist praktisch ein Muß, diese Weine noch für eine bestimmte Zeit ruhen und reifen zu lassen.
    Zur Verdeutlichung des Sachverhaltes ein Beispiel: Im  April d. J. habe ich zahlreiche 95er Grand Crus aus Bordeaux (vor-)degustiert,  um die Anlage und das Reifungspotential der Weine abzuschätzen. Entschieden habe ich mich für eine Kiste des folgenden Weines, der im April 45 Mark pro Flasche  gekostet hat und mittlerweile um 80 Mark gehandelt wird. Bei fachkundiger  Auswahl oder viel Glück können Grand Crus also sehr interessante Spekulationsobjekte darstellen.

    Chateau d’Armailhac 1995 - 5ôme Grand Cru classé

    Sehr tiefes Purpurrot, ölige Schlieren im Glas. Im Duft dunkle Früchte, besonders  Brombeere und hintergründiger Cassis, ätherische Note mit einem Hauch von  Menthol, feine helle Röstaromen von Zimt und Vanille. Sehr kraftvolles Tannin,  das jedoch von samtiger und anschmiegsamer Struktur ist. Der Wein beginnt sich zu öffnen, im Nachgeschmack Kirsche.

    Gesamteindruck: Sehr  kraftvoll-anregender Duft und Geschmack, der auf ein Wiedersehen in einigen Jahren neugierig macht! (Degustationsnotiz vom April 1998)
  • Wer einen guten Tropfen für einen unmittelbar bevorstehenden (besonderen)  Anlaß erwerben möchte, also an einem trinkfertigen Wein interessiert ist, muß  sehr auf das Alter des Weines achten. Natürlich gibt es auch sehr hochwertige  Weine, die jung köstlich schmecken. Das gilt für die meisten Weißweine, aber nur  für wenige Rotweine. Die edlen Roten sind fast immer für die Lagerung gemacht.  Wenn z. B. zum jetzigen Zeitpunkt ein 96er Chateauneuf-du-Pape für 35 Mark oder ein 95er Barolo für 40 Mark geöffnet würde, so könnte ich dafür garantieren, daß  die Enttäuschung vorprogrammiert wäre. Genau wie bei den jungen Grand Crus kann hier der Gerbstoff (Tannin) noch nicht optimal eingebunden sein. Die  gehaltvollen und extraktreichen Rotweine besitzen in diesem zarten Alter noch sehr adstringente und schroffe Eigenschaften. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Wer einen großartigen genußbereiten Wein kaufen möchte, muß  entweder richtig viel Geld oder entgegengesetzt weniger Geld für einen guten  trinkfertigen Wein ausgeben, denn mittlere Qualitäten reifen schneller zu ihrer  vollen ”Größe” heran. Wie schmeckt ein großer Wein, wenn er den Höhepunkt seiner Reifung erreicht hat? Ein Beispiel für einen exzellenten Wein dieser Art wäre der folgende, der im Oktober 1998 für 135 Mark zu haben war.

    Chateau Margaux 1987 - 1er Grand Cru classé

    Wunderschöne Farbe eines gealterten Rubinrot. Das Bouquet ist  von zarter Struktur, elegant und ausgewogen, eine Frucht ist nicht konkret  auszumachen, es gibt die Tendenz zu mittelroten Früchten, ein leichter kalkiger Duft liegt wie ein feiner Schleier über dem Wein. Im Mund entsteht ein wohlig warmes Gefühl. Alles in diesem Wein scheint „ausgesöhnt“ zu sein, es herrscht Harmonie. Der Wein ist nur als ganzes schmeckbar, seine Komponenten verschmelzen ineinander. Der Nachgeschmack ist schier unglaublich, denn der Wein bleibt und  bleibt und ... Noch besser kann er vermutlich nicht werden.

    Besonderheit: Sein nicht zu definierender betörender Duft und seine behagliche Wärme; der Wein vermittelt ein Gefühl von Geborgenheit. (Degustationsnotiz vom November 1998)

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß jeder Wein einen sehr individuellen Reifungsprozeß durchläuft, dessen Dauer von vielen Faktoren abhängig ist. Wann der Wein optimalen Trinkgenuß bietet, ist vor allem von den Umständen des  Lesejahres, der Rebsorte, dem Restzuckergehalt und der Güte der verwendeten  Trauben sowie der Verarbeitungssorgfalt abhängig. Anhaltspunkte für Reifestadien finden sich z. B. in Weinbüchern und Fachzeitschriften, jedoch verbietet m. E. die Vielfalt der Weine diesbezügliche Generalisierungen. Besser ist es, sich bei Unsicherheit im Fachhandel beraten zu lassen oder die Meinung von versierten Weinkennerinnen oder Weinkennern einzuholen. Am allerbesten ist es jedoch, eigene Erfahrungen zu sammeln und selbst die geheimnisvolle Welt der Weine zu  ergründen, ”denn eine gute Flasche Wein ist wie eine lange Geschichte. Man muß sie öffnen wie ein Buch und darin mit allen Sinnen lesen” (Poupon). Um dem Vergessen entgegenzuwirken, empfehle ich unbedingt das Anfertigen von  Degustationsnotizen!

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