Kurde

”Starker Abgang, Jürgen!”
sagte Guido und lehnte sich zufrieden zurück.

Ein junger Kurde im Spannungsfeld zwischen Türkei und deutschen Behörden

Eberhard Sievers
Vorsitzender des Kirchenvorstandes Loccum

Abdul Aziz Barut wuchs in einem kleinen kurdischen Dorf auf, das mitten in die politisch-militärischen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken  geriet. Zwei ältere Brüder fassten Fuß in Deutschland. Als auch der Vater das  Dorf verlassen musste, weil es gefährlich wurde, flog Abdul Aziz als  Zwölfjähriger zu seinen Brüdern nach Deutschland. In der Familie des einen  Bruders, der in Loccum wohnt und ein Obst- und Gemüsegeschäft betreibt, wurde er  aufgenommen und versorgt. Der Bruder wurde sein Vormund. Abdul Aziz lernte deutsch und besuchte die Hauptschule in Loccum. Jedoch wurde sein Antrag auf  Asyl in Deutschland abgelehnt: Er war kein Kind, das seinen Eltern nachfolgte. Er war nicht direkt ein politisch Verfolgter. Er war kein Flüchtling aus einem direkt bekannten Kriegsgebiet.

Abdul Aziz Familie gab den Kampf nicht auf, stellte weitere Anträge und  wandte sich an Anwälte. Es gelang aber nicht, die verhängnisvolle Feststellung  aus seinen Akten wegzukriegen: "Abschiebungshindernisse sind nicht bekannt".  Immerhin war durch die lange Verfahrensweise Zeit gewonnen worden, die seinem Einleben in Deutschland zugute kam. Im Herbst 1998 stimmte der Bruder gegenüber  der Ausländerbehörde schließlich zu, Abdul Aziz freiwillig wieder in die Türkei  zurückkehren zu lassen. Immer noch in der Hoffnung, daß sein Aufenthalt in Deutschland legalisiert werden könnte, flog Abdul Aziz jedoch nicht in die Türkei zurück, sondern tauchte mit unbekanntem Aufenthaltsort bei Bekannten in  Deutschland unter. Wieder war nichts entschieden, sondern nur Zeit gewonnen  worden.

In dieser Zeit wandte sich die Familie an kirchliche Stellen in Loccum und im  Kirchenkreis Stolzenau-Loccum um Hilfe. Für uns stellte sich die Situation so  dar, dass der junge Mann sich in Loccum eingelebt hatte und bekannt war, daß er zwar ein mittelmäßiger Schüler, aber völlig unbescholten war, dass er die deutsche Sprache beherrschte, in einer intakten Familie versorgt war und einen  Beruf erlernen wollte.

Andererseits würde ihn in der Türkei ein ungewisses Schicksal erwarten: Bei  einer Rückkehr in sein Dorf würde er als 17jähriger sogleich von der PKK erfasst und zur militärischen Ausbildung gezwungen werden. Oder er würde von der anderen Seite, dem türkischen Militär, eingezogen und gegen seine Landsleute, die Kurden, eingesetzt.

Darum setzten nun in Loccum eine Anzahl kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles Mögliche in Bewegung, um seinen Aufenthalt in Deutschland  legalisiert zu bekommen, um weitere Zeit zu gewinnen oder - wenn alles nichts  nützt - um wenigstens wieder die Genehmigung zu einer freiwilligen Rückkehr in die Türkei zu erhalten. Als Abgeschobener ist seine Wiedereinreise nach  Deutschland ausgeschlossen. Als freiwillig Reisender wäre sie nach längerer Zeit wieder möglich. Es ging in diesem Fall also nicht um Kirchenasyl. Wir wussten  nicht, wo Abdul Aziz sich aufhielt. Sondern es ging um "Gemeindeschutz", um die Vertretung seiner humanitären Interessen vor deutschen Behörden mit Hilfe der  evangelisch-lutherischen Gemeinde.

Aber alle diese Bemühungen scheiterten. Als Abdul Aziz einmal kurz vor Weihnachten zu seiner Familie kam, wurde er festgenommen und in Abschiebehaft  nach Hameln gebracht. Wir versuchten bis zum letzten Augenblick, die zuständige  Ausländerbehörde beim Landkreis Nienburg zum Einlenken zu bewegen. Aber am 5.  Januar 1999 wurde Abdul Aziz Barut unter Polizeigeleit ins Flugzeug nach Istanbul gesetzt.

Der Fall Abdul Aziz Barut mutet wie ein undurchdringliches Gestrüpp im Dschungel deutscher Behörden und Gerichte an. Es gab unglückliche Umstände,  verpaßte Chancen, Mißverständnisse, Ungeschicklichkeiten, Versäumnisse, Fehlinterpretationen, usw. Auch die Familie machte Fehler. Was in allem  bedauerlicherweise zu kurz geriet, war die Humanität, das menschliche Schicksal  eines unbescholtenen jungen Mannes, der hier integriert war und friedlich leben  wollte.

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